INSPIRIERENDE STORYS

Kunst überwindet alle Hindernisse

Jeder Tag ist ein guter Tag. Und selbst schlechte Tage sind ein Geschenk. Für den Künstler, Autor und Motivationsredner Henry Fraser ist dies mehr als nur ein Mantra. Es ist seine Lebensphilosophie.

Wie viele Künstler unserer Zeit hat er einige seiner bekanntesten Werke auf einem iPad erstellt. Allerdings unterscheidet er sich von anderen dadurch, dass er querschnittsgelähmt ist und mit dem Mund malt.

Seine positive Lebenseinstellung brachte ihm schon viel Anerkennung von Prominenten wie J.K. Rowling ein.

2009 im Alter von 17 Jahren tat Henry während eines Urlaubs das, was er schon die ganze Woche zuvor getan hatte: Er rannte zum Strand hinunter, um sich mit einem Kopfsprung ins Wasser abzukühlen. Dieses Mal aber prallte er mit dem Kopf gegen eine Sandbank.

Dabei wurde er am vierten Halswirbel verletzt und sein Rückenmark durchtrennt. Seitdem ist er ab dem Hals querschnittsgelähmt. In endlos langen Jahren der Rehabilitation musste er erst wieder lernen, selbstständig zu atmen, zu schlucken und schließlich auch wieder zu malen.

„In meiner frühen Jugend war ich versessen auf alles Kreative“, verrät er uns mit fester Stimme zwischen ganz bewussten Atemzügen. „Ich baute, malte und zeichnete, was mir gerade in den Sinn kam. Gegen Ende meiner Schulzeit verlor ich aber zusehends das Interesse daran. Bis es dann zu dem Unfall kam.“

Für seine künstlerische Arbeit verwendet Henry einen speziellen Mundstift.

„Bis zum Januar 2016, also mehr als fünf Jahre, habe ich keinen Gedanken mehr an Kunst verschwendet. Ich hatte eine Entzündung im Rücken, eine Folge meiner Rückenmarksverletzung, lag tagelang im Bett und war genervt, weil ich nur fernsehen konnte.“

„Als ich endlich wieder aufrecht sitzen konnte, schlug mir mein Pfleger die Beine übereinander, stapelte ein paar Kissen auf meinen Schoß und legte mein iPad darauf ab. Ich habe dann ganze Tage mit Spielen verbracht. In Football Manager bin ich inzwischen Weltspitze“, flachst er bei unserem Gespräch in seinem zum Atelier umfunktionierten Wohnzimmer. „Ich hatte nichts Besseres zu tun, also beschloss ich, es mit dem Zeichnen zu versuchen, und sah mich im App Store nach geeigneten Apps um.“

Nach etlichen Fehlschlägen stieß Henry auf die App, die sein Leben verändern sollte. „Ich entdeckte Sketches, eine grandiose Zeichen-App mit einer Vielzahl an Optionen und kreativen Möglichkeiten. Ich begann mit einfachen Linien – was ein Zeichenstift eben hergibt. Doch bald schon wurde ich experimentierfreudig und verwendete Stifte in verschiedenen Stärken und mehr Farben.”

Ich hatte nichts Besseres zu tun, also beschloss ich, es mit dem Zeichnen zu versuchen.

Henry Fraser

Dies war die Initialzündung. „Als es mir wieder besser ging und ich das Bett verlassen konnte, versuchte ich es zuerst mit Farbstiften und nach ein paar Monaten mit echten Farben“, erklärt Henry. „Wäre ich nicht über die App gestolpert, wäre ich vermutlich nie auf die Idee gekommen, mit Pinseln und Farben zu arbeiten.“

Nach seinen Anfängen auf dem iPad verwendet Henry heute verstärkt traditionelle Materialien.

Da Henry nur seinen Nacken und seinen Kopf bewegen kann, verwendet er einen Mundstift mit einer gummierten Aufbissplatte und einer Kunststoffröhre, an deren Ende sich ein Pinsel, ein Farbstift oder ein Stylus befestigen lässt – je nachdem ob Henry in traditioneller Manier oder auf seinem iPad arbeitet.

„Zum Malen setzt mich mein Pfleger oder meine Mutter im richtigen Abstand vor die Staffelei und legt mir ein Tuch über die Arme, an dem ich den Pinsel abwischen kann“, erklärt Henry. „Meine Staffelei hat zwei Ablagen. Auf der unteren befinden sich ein Gefäß mit Wasser und ein Stück Pappe, das mir als Palette dient. Wer gerade da ist, trägt etwas Farbe auf die Palette auf, sodass ich eine Zeit lang arbeiten kann.“

Nach meinem Unfall dachte ich, dass mir viele Türen für immer verschlossen sind. Aber weitaus mehr Türen haben sich seitdem für mich geöffnet.

Henry Fraser

„Ich habe vier Mundstifte, sodass ich mit vier verschiedenen Pinseln loslegen kann und nur von Zeit zu Zeit jemand kommen muss, um den Mundstift zu tauschen. Ich versuche daher, so gut wie möglich zu planen, was ich wann brauche.“

„In der App kann ich zwischen dünneren und dickeren Linien umschalten, sodass ich leichter und schneller vorankomme. Und da ich jede Aktion widerrufen kann, mach ich mir nicht so viele Gedanken wegen möglicher Fehler – sie lassen sich ja rückgängig machen ... Für Zeichnungen auf dem iPad brauche ich zwei bis vier Stunden, für traditionelle Zeichnungen deutlich länger, manchmal bis zu einer Woche, und für gemalte Bilder zwischen zwei und fünf Tagen.“

Mit seinem speziellen Mundstift kann Henry im Rahmen seiner eingeschränkten Möglichkeiten die Bewegungen seines Kopfes auf das Medium übertragen.

Henry teilte seine ersten Arbeiten auf Twitter und Instagram und landete damit einen viralen Hit. Nur 10 Monate nach den ersten Zeichenversuchen mit den Apps und vier Monate nach den ersten Experimenten mit echten Farben, hatte er bereits seine erste private Ausstellung. Neun Monate später folgten schon eine große öffentliche Präsentation und sein autobiografisches Buch The little big things, das bei iBooks erhältlich ist.

Obwohl die Ergebnisse beeindruckend sind und Henry alles so mühelos und „easy“ erscheinen lässt, fordert diese Arbeit ihren Tribut.

„Wenn ich eine Linie zeichne, atme ich nicht, damit ich nicht wackle“, erklärt er. „Atmen ist für mich eine ziemliche Anstrengung, da ich dafür Muskeln einsetze, die andere Menschen normalerweise nicht zum Atmen brauchen. Auf meinem Schoß habe ich Kissen als Ablage für meine Arme, die gleichzeitig auch meinen Rücken stützen.“

Wäre ich nicht über die App gestolpert, wäre ich vermutlich nie auf die Idee gekommen, mit Pinseln und Farben zu arbeiten.

Henry Fraser

„An meinem Bild vom Mount Everest habe ich vier Tage hintereinander jeweils fünf Stunden ohne Pause gearbeitet. Danach waren meine Muskeln total am Ende. Es ist zwar ein tolles Erlebnis, wenn ich ein Bild fertigstelle, in den drei Tagen danach bin ich aber immer restlos erledigt.“

Entgegen aller Widrigkeiten ist es Henry dank seiner positiven Lebenseinstellung immer wieder gelungen, die Erwartungen anderer Menschen zu übertreffen. „Wenn man wie ich seine Arbeit nicht mehr mit den Händen erledigen kann, muss man eben andere Mittel und Wege finden, um die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen“, sagt er. „Nach meinem Unfall dachte ich, dass mir viele Türen für immer verschlossen sind. Aber weitaus mehr Türen haben sich seitdem für mich geöffnet.“

Dass ihm seine Hände den Dienst versagen, hat Henry nicht davon abgehalten, immer wieder über sich selbst hinauszuwachsen.

„Wenn ich diese Apps nicht entdeckt hätte, hätte ich nie mit dem Zeichnen und dann, als es mir besser ging, nie mit dem Malen begonnen. Die Kunst hat mir so viele neue Wege eröffnet, es ist einfach unglaublich. Es war nervig, mit Schmerzen im Bett liegen zu müssen, aber letztendlich haben sich dadurch für mich ganz neue Perspektiven ergeben.“

Oder, wie Henry sagt: „Jeder Tag ist ein guter Tag.“ Es kommt nur auf den richtigen Blickwinkel an.